Die deutsche Biotechnologie-Branche 2020
Rekordfinanzierung, Umsatzplus, mehr Mitarbeiter, deutlicher Anstieg der Investitionen in Forschung und Entwicklung. Mehr dazu im aktuellen BIOCOM-Branchenreport.
Die Biotechnologie steht als Sammelbegriff für eine nahezu unüberschaubare Vielzahl von Verfahren, Produkten und Methoden. Nach der Definition der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) ist Biotechnologie die Anwendung von Wissenschaft und Technik auf lebende Organismen, Teile von ihnen, ihre Produkte oder Modelle von ihnen zwecks Veränderung von lebender oder nichtlebender Materie zur Erweiterung des Wissensstandes, zur Herstellung von Gütern und zur Bereitstellung von Dienstleistungen.
Mit anderen Worten: Die Einsatzmöglichkeiten der Biotechnologie sind nicht auf ein Gebiet beschränkt, sondern sehr vielfältig. So erforschen Biotechnologen kleine und große Organismen, Pflanzen, Tiere und Menschen, aber auch kleinste Teile wie einzelne Zellen oder Moleküle. Biotechnologie ist zudem gar keine so neue Wissenschaft. Schon sehr lange nutzen Menschen lebende Mikroorganismen, etwa bei der Herstellung von Bier, Wein und Brot.
Die moderne Biotechnologie, wie sie heute angewandt wird, nutzt indes gezielt die Methoden der Molekularbiologie. Die Grundlagen hierfür wurden erst mit den wachsenden Erkenntnissen der Mikrobiologie im 18. und 19. Jahrhundert gelegt. Beispielsweise durch die Entdeckung der ersten Enzyme als Biokatalysatoren oder von Bakterien als Produzenten für medizinische Wirkstoffe. Heute ist die Biotechnologie eine vielgenutzte Querschnittstechnologie. Mit ihr lassen sich neue Medikamente entwickeln, neue Pflanzensorten züchten oder Alltagsprodukte wie Waschmittel und Kosmetika effizienter herstellen. Zur Unterscheidung dieser verschiedenen Anwendungsgebiete hat sich eine Farbenlehre herauskristallisiert: So wird zwischen der roten, grünen und weißen Biotechnologie unterschieden, die sich auf die Gebiete Medizin (rot), Landwirtschaft (grün) sowie Industrie (weiß) bezieht.
1975: Der Däne César Milstein, der Deutsche Georges Köhler und der in Argentinien geborene Brite Niels Jerne erfinden ein Prinzip zur Herstellung monoklonaler Antikörper. Die Immunologen machen sich dabei zunutze, dass für vielzellige Organismen wie den menschlichen Körper die Unterscheidung zwischen eigen und fremd überlebenswichtig ist. So fertigt unser Immunsystem für jeden Fremdkörper, Antigen genannt, einen speziellen Antikörper an. Dieser bekämpft den Eindringling oder markiert ihn zumindest für besondere Abwehrzellen, die ihn dann unschädlich machen. Die Abwehr des Körpers geschieht stets an verschiedenen Fronten mit unterschiedlichen Antikörpern, in der Fachsprache polyklonal genannt. Die Idee der Forscher war es, eine spezielle, B-Zelle genannte Abwehrzelle des Immunsystems (sie zählt zu den weißen Blutkörperchen und stammt aus der Milz) gegen ein Antigen scharf zu machen und sie dann im Labor mit einer bestimmten Krebs-(Myelom-)Zelle zu vereinigen.
Die entstandene hybride Zelle erbte von der B-Zelle die Eigenschaft, einen ganz bestimmten Antikörper herzustellen, und von der Krebszelle die Unsterblichkeit (Hybridom-Technik). Diese Hybridomas können sich, ganz nach Tumorart, auch in Zellkulturen unbegrenzt vermehren. Ihre genetisch identischen Nachkommen (Klone) sondern stets ein und denselben Antikörper ab, einen sogenannten monoklonalen Antikörper. Über ihre Entdeckung berichteten sie am 7. August 1975 im Fachblatt Nature. Sie beendeten ihn mit dem Hinweis, dass ihre neue Zellkulturtechnik nützlich für den medizinischen und industriellen Gebrauch sein könnten. 1984 erhalten die drei Forscher für ihre Arbeiten den Medizin-Nobelpreis.
1976: Am 7. April 1976 gründen der Biochemiker Herbert W. Boyer und der Investor Robert A. Swanson in San Francisco die Firma Genentech. 1977 beginnt Genentech mit der biotechnologischen Produktion von menschlichem Somatostatin, ein Wachstumshormon. Zum Einsatz kommen gentechnisch veränderte Bakterien der Gattung e. coli. 1978 wird das humane Insulin-Gen von Genentech kloniert und 1979 folgt dann die Klonierung des humanen Wachstumshormons. 1980 geht die US-Firma an die Börse. 1982 wurde mit humanem Insulin der erste rekombinant hergestellte Arzneistoff zugelassen. Die Produktion und Vermarktung wurde an das Pharmaunternehmen Eli Lilly auslizenziert. Mit Protropin, einem Wachstumshormon zur Behandlung von Wachstumsstörungen bei Kindern, erhält Genentech 1985 zudem die Zulassung für das erste durch ein Biotechnologie-Unternehmen selbst vermarktete Produkt. Im März 2009 übernimmt die Roche AG Genentech für 46,8 Milliarden USD.
1977: Basierend auf der von ihm seit 1975 entwickelten Kettenabbruch-Synthese stellt Frederick Sanger die komplette Sequenz des Bakteriophagen X174 mit einer Länge von 5386 Basenpaaren vor. Aus der Nukleotidfolge kann problemlos die Sequenz der zehn vom Phagen kodierten Proteine abgelesen werden. Für seine Arbeiten zur DNA-Sequenzierung erhält er zusammen mit Walter Gilbert und Paul Berg 1980 den Nobelpreis für Chemie.
1977 können erstmals Oligonukleotide mit einer Länge von 8 Basen hergestellt werden. In Kombination mit der sog. Überlappungsmethode unter Einsatz von Enzymen gelingt es so, DNA-Fragmente einer Länge von etwa 100 Nukleotiden zu synthetisieren. Mit Hilfe dieser ersten, sehr aufwendigen Techniken konnten auch die Sequenzen des Bauchspeichelhormons Somatostatin und die A- und B-Kette des Insulins synthetisiert werden. Im Jahr 1981 gelingt die erste vollständigen Synthese des 514 Basenpaare langen Gens für das Leukozyten-Interferon (INF) durch Michael Edge – ein Meilenstein in der Historie der DNA-Chemie. Die ersten Arbeiten zur Gensynthese bleiben jedoch Pioniertaten, da sich die gewählten Verfahren nicht zur Kommerzialisierung eignen. Im Jahr 1982 wird eine Technik entwickelt, mit der sich menschliches Insulin mithilfe von gentechnisch veränderten Bakterien produzieren lässt. Zum Vergleich: Heutzutage können laut NimbleGen 25.000 Oligonukleotide mit einer Länge von im Schnitt 30 Basen simultan auf einem Chip synthetisiert werden.
1983: Der US-Forscher Kary Mullis erfindet in Kalifornien die Polymerase-Kettenreaktion (Polymerase Chain Reaction - PCR). Mit Hilfe des hitzestabilen Enzyms DNA-Polymerase wird es erstmals möglich, spezielle Abschnitte der Erbsubstanz DNA im Reagenzglas millionenfach zu kopieren. So lässt sich selbst aus winzigen Proben das genetische Material so stark vervielfachen, dass nachweisbare Mengen erhalten werden.
Die typischen Zutaten für eine PCR-Reaktion sind neben dem Kopierenzym Polymerase die DNA, aus der ein Abschnitt vervielfältigt werden soll. Außerdem sind neben einzelnen DNA-Bausteinen für die Synthese noch zwei definierte Primer nötig, kurze Oligonukleotide, die an den beiden Enden des zu kopierenden Abschnitts andocken und somit den Rahmen für die Kopierarbeit der Polymerase setzen. Da bei einer PCR die Kopierschritte immer wieder wiederholt werden, erreicht man durch diesen Trick eine exponentielle Vervielfältigung. Die PCR-Technik hat als Werkzeug die Molekularbiologie revolutioniert und hat zudem eine neue Generation von hochempfindlichen diagnostischen Tests ermöglicht. Diese sind aus der genetischen Diagnostik, der Erforschung von Krankheiten und der Forensik nicht mehr wegzudenken. In den Jahren 1985 bis 1989 entwickelt Mullis die PCR-Technik in dem kalifornischen Biotechnologieunternehmen Cetus weiter. 1993 erhält er zusammen mit Michael Smith hierfür den Nobelpreis in Chemie.
1984: Als Ausgründung der Heinrich-Heine Universität Düsseldorf wird die Qiagen AG ins Leben gerufen. Den Beginn der Unternehmenstätigkeit markiert die Entwicklung von Kits für die Aufreinigung von Nukleinsäuren. 1996 geht Qiagen als erstes deutsches Unternehmen überhaupt an die US-amerikanische Technologiebörse NASDAQ. Im Juni 2007 erfolgt die Übernahme der Digene Corp. für rund 1,6 Milliarden USD, womit sich Qiagen endgültig als führender Anbieter im Markt für molekulare Diagnostik etabliert. Derzeit sorgt das Unternehmen mit einem Umsatz von knapp einer Milliarde Euro für den größten Anteil am deutschen Biotech-Umsatz.
1986: Das von Applied Biosystems vorgestellte Gerät mit der Modellbezeichnung ABI Prism 370A macht den bisherigen Einsatz von Radioaktivität bei der Sequenzierung überflüssig. Die Sequenzbestimmung erfolgt über die Detektion von für jede Base spezifischen Fluorophoren. Mit den Geräten der ersten Generation kann die Sequenz von bis zu 96 verschiedenen DNA-Abschnitten auf einer Länge von wenigen hundert Basenpaaren bestimmt werden. Zum Vergleich: Im Rahmen der heute zur Anwendung kommenden Sequenzierungsverfahren der nächsten Generation können mehrere Tausend bis zu Millionen Sequenzreaktionen gleichzeitig und hochgradig automatisiert ablaufen. Dies ermöglicht, dass ein komplettes menschliches Genom mit seinen 3,2 Milliarden Basenpaaren, für das das Humangenomprojekt noch 10 Jahre brauchte, heutzutage innerhalb von 8 Tagen durchsequenziert werden kann.
2005: Sequenziergeräte einer neuen Generation (Next Generation Sequencing) beschleunigen die Sequenzierung von DNA und RNA um Zehnerpotenzen. 2005 kommen die ersten Pyrosequenzer der Firma Roche auf dem Markt, die schon Millionen von Basenpaare in einem Schritt auslesen konnten. Weitere Verfahren der Unternehmen Illumina (Solexa) oder Applied Biosystems (SOLiD) folgten. Der Vorteil: Bei allen neuen Verfahren fällt der aufwendige DNA-Vermehrungsschritt mit Hilfe von Bakterien weg. Stattdessen können die Erbgutschnipsel mit der Polymerasekettenreaktion (PCR) stark vervielfältigt und dann gelesen werden.
2012: Die sogenannten Einzelmolekül-Sequenzierer werden einsetzbar. Auf Nanostrukturen oder Nanoporen basierende Sequenziertechniken ermöglichen es, einzelne Nukleinsäure-Moleküle Base für Base abzulesen. Auf Chips massiv parallel eingesetzt, lassen sich so hohe Durchsatzraten erzielen und Kosten sparen.
Forscher um Ian Wilmut vom schottischen Roslin-Institut erzeugen mit dem Schaf Dolly das erste geklonte Säugetier. Dazu wurde das Erbgut einer ausdifferenzierten Euterzelle in entkernte Eizellen bugsiert. Der somatische Kerntransfer zum Klonen von Säugetieren gelang in der Folge auch bei Rindern und anderen Nutztieren. Über Dolly berichteten die Schotten 1997 im Fachmagazin Nature.
1998: Dem US-Forscher James Thomson gelingt es erstmals, aus menschlichen Embryonen Stammzellen zu isolieren und diese als embryonale Stammzellen (ES-Zellen) im Labor zu kultivieren. Die ES-Zellen lassen sich in nahezu alle Zelltypen des Menschen verwandeln. Thomson schuf damit eine wichtige experimentelle Basis für die Stammzellforschung und für die Regenerative Medizin.
2006: Japanischen Forschern um Shinya Yamanaka gelingt erstmals, ausdifferenzierte Hautzellen in einen embryonalen Alleskönnerzustand zurückzuprogrammieren. Sie wandelten ausgereifte Hautzellen von Mäusen durch gentechnische Tricks so um, dass sie sich wie embryonale Stammzellen verhielten. Das künstlich erzeugte Ergebnis nennen sie induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen). Lediglich ein Cocktail aus den vier Genen namens Oct4, Sox2, c-Myc und Klf4 wurde mithilfe von Viren in die Körperzellen eingeschleust.
2007: Den japanischen Forschern gelingt dieselbe Verjüngungskur auch bei menschlichen Hautzellen. Für die Stammzellforschung waren die Arbeiten und Erkenntnisse von Shinya Yamanaka so einflußreich, dass der japanischen Forscher bereits 2012 mit dem Medizin-Nobelpreis geehrt wird.
Die Rohfassung des menschlichen Erbguts ist entziffert, das öffentlich geförderte Konsortium
der "Human Genome Organization" und das Unternehmen Celera verkünden am 26. Juni mit US-Präsident Bill Clinton den Sequenzierungserfolg. Das Humangenomprojekt, die Mutter aller großen Genomprojekte, hatte enorme Auswirkungen für die Biotechnologie, sowohl für die Wissenschaft als auch für die Industrie. In der Forschung bildete es den Startschuss für eine Reihe weiterer Mammutprojekte, an denen hunderte Wissenschaftler, Sequenzierroboter und leistungsstarke Computer beteiligt waren und sind.
2002: Eckhard Wimmer synthetisiert im Reagenzglas das erste komplette Genom eines Poliovirus. Die Arbeit gilt als ein Meilenstein für das aufstrebende Fach der Synthetischen Biologie.
2008: US-Forschern um Craig Venter gelingt der Zusammenbau eines Bakteriengenoms von Mycoplasma genitalium
2010: Hamilton Smith, Venter und Kollegen bauen ein synthetisches Genom in ein Bakterium ein. Das Bakterium mit dem transplantierten Genom entwickelt sich und gibt es an seine Tochterzellen weiter.
„Genscheren“ sind molekulare Präzisionswerkzeuge, die den DNA-Doppelstrang an definierten Stellen viel schneller und gezielter durchtrennen als Restriktionsenzyme. Mit ihrer Hilfe lässt sich das Erbgut sehr präzise in lebenden Zellen bearbeiten. Zu den Genscheren zählen Zinkfinger- und TALE-Nukleasen. Aber keines dieser Systeme hat die Molekularbiologie so verändert wie die Designer-Nuklease CRISPR-Cas.
Deren Vorbild ist das CRISPR-Cas-System, das eine Art bakterielle Immunabwehr im Kampf gegen Viren darstellt.
2007: Rodolphe Barrangou und Philippe Horvath entdecken das CRISPR-Cas-System für den Einsatz in der Milch verarbeitenden Industrie. Die Biotechnologen hatten nach einem Weg gesucht, ein für die Joghurt- und Käseproduktion benötigtes Bakterium resistent gegen Virenbefall zu machen.
2012 zeigten Emmanuelle Charpentier und Jennifer Doudna, dass sich dieses System generell dazu eignet, um aus wenigen molekularen Komponenten programmierbare Universalwerkzeuge zum gezielten Schneiden von DNA herzustellen. Ihre bahnbrechende Arbeiten veröffentlichten sie Ende Juni 2012 im Fachjournal „Science“. Nahezu zeitgleich hatte ein Team um Virginijus Šikšnys von der Universität Vilnius (Litauen) ein ähnliches System entwickelt, das Paper des litauischen Teams erschien aber erst im September 2012 in „PNAS“.
Anfang 2013 wiesen Feng Zhang und George Church nach, dass das CRISPR-basierte „Genome Editing“ auch in menschlichen Zellen möglich ist. CRISPR-Cas-Nukleasen lassen sich bei allen Lebewesen einsetzen und finden in allen Bereichen der Biotechnologie Anwendung. In der Züchtung von Pflanzen und Tieren erlaubt die CRISPR-Cas-Technologie eine gezielte Mutagenese und kann somit den Züchtungsprozess stark beschleunigen. In der Medizin weckt sie Hoffnungen auf die Heilung bisher unheilbarer Krankheiten, die Technologie birgt aber auch Missbrauchspotenzial, sollten damit Zellen der menschlichen Keimbahn bearbeitet werden. Ende 2018 wurde bekannt, dass ein chinesischer Wissenschaftler mittels CRISPR-Cas den ersten gentechnisch veränderten Menschen auf die Welt verholfen hat. Die internationale Forschergemeinschaft und auch die chinesische Regierung distanzierten sich von diesen Menschenexperimenten.
2018 urteilte der Europäische Gerichtshof EuGH, dass Pflanzen, die mithilfe von Genome-Editing-Verfahren wie CRISPR-Cas entstanden sind, als gentechnisch veränderte Organismen einzustufen sind. Sie fallen damit unter die strengen Auflagen des europäischen Gentechnikrechts.